Acheiropoieton; nicht von Hand gemacht. Das Objekt von Stefan Schumer hat als Ausgangsmaterial einen mit grundierter Leinwand bespannten Rahmen. Nach der Entfernung des Bildträgers verblieb der in Gehrungen gefügte Weichholzrahmen. Das Material zeigt in der Oberfläche die Xylem-Struktur. Dieses Gewebe aus Leitungs-, Festigungs- und Speichergewebe bildet eine Textur, die durch das Wachstum der Pflanze vordefiniert wurde und durch die Verarbeitung des Holzes in Erscheinung tritt. Diese Maserung käme einer geneigten Betrachtung als lesbare Oberfläche entgegen, sei es als lignogenetischer Informationsträger, sei es als orakelhafte Textur, deren Lesbarkeit sich erst der Augurenkunst erschließt. In dieser letztgenannten Lesekunst definiert der „inaugurierte“ Interpret der Welt ein Geviert („templum“), innerhalb dessen die Zeichen („signa“) wahrzunehmen sind. Das vorliegende Objekt zeigt eine Überschreibung dieser Textur. Es gewinnt dadurch eine Nähe zum Palimpsest, zur wiederbeschriebenen Manuskriptseite. Der im Wortsinn gravierende Unterschied liegt im Verarbeitungsschritt von der Hand (manu scriptum = von Hand geschrieben) zum Finger, wie er noch semantisch in den digital gesteuerten Planungs- und Verarbeitungstechnologien („digitus“ = Finger) aufscheint. Die computergesteuerte Fräsmaschine hat ein Planungsdetail des Projektes „atomos“ auf die Holzoberfläche übertragen. Dieses Detail definiert in der Planungsrealität die riesige Dimension von einigen tausend Metern. Mit der Übertragung auf den kleinen Rahmen verliert die Planzeichnung allerdings ihre Lesbarkeit. Sie wird – ähnlich der Textur des Holzes – zum rätselhaften Phänomen, das dem Objekt den Charakter eines kontemporären Acheiropoietons verleiht. Was in der Antike als „nicht von Hand gemachtes“ Kultbild Bestandteil der Bildtheologie gegolten hat erfährt mit Schumers Arbeit eine unvermutete Aktualisierung und stellt den Architekten in eine Tradition des Sehvermögens, die jenseits utilitaristischer Zweckrationalismen die Vorzüge archaischer Poesie mit den vielschichtigen Diskursebenen der Gegenwart in fruchtbare Begegnungen zu führen vermag. J. Berger, im Juli 2015